Shakespeare mal anders

Eine Exkursion des GK Biologie

“Das ist wirklich viel Arbeit hier im Theater Ramba Zamba.“, sagt die grauhaarige Dame mit der lauten Stimme, die die Einführungsveranstaltung leitet: “Wenn wir proben, proben wir den ganzen Tag. Das ist schwierig für viele, die es nicht gewohnt sind, lange Zeit am Stück konzentriert zu arbeiten. Trotzdem sind alle Schauspieler des Ensembles mit Feuereifer bei der Sache. Niemand, der nicht voll und ganz in der Schauspielerei aufgeht, würde sich so viel Arbeit machen.”

Das hört sich so einfach daher gesagt an, aber wer die Schauspieltruppe des Ramba Zamba in Aktion erlebt hat, der weiß, dass es sich in diesem speziellen Fall nicht besser ausdrücken lässt. Der Aufwand, die Leidenschaft, das Engagement jedes einzelnen Schauspielers werden für das Publikum in jeder Szene spür- und greifbar – vom Anfang bis zum Ende.

Das Ramba Zamba Berlin besteht aus zwei Theaterensembles mit Schauspielern, die zumeist eine geistige oder körperliche Behinderung* haben (so sind z. B. viele der Spieler vom Downsyndrom betroffen). Das Stück Lost Love Lost oder lasst mich den Löwen auch noch spielen! ist ein gemeinsames Projekt beider Theatergruppen, das zum Großteil aus improvisierten Passagen und den eigenen Ideen der Schauspieler entstanden ist.

Lost Love Lost erzählt die Geschichte einer Schauspieltruppe, die auf der Insel ihres verbannten Theaterleiters Prospero strandet. Um sich an dem Verrat durch seinen eigenen Bruder, den neuen Gruppenleiter Antonio, zu rächen, zwingt Prospero die Spieler, verschiedene Werke Shakespeares in abgewandelter Form auf die Bühne zu bringen. So will er nicht nur seine eigene Macht demonstrieren, sondern dem Ensemble auch begreifbar machen, welches Unrecht ihm durch die Verbannung widerfuhr. Doch dabei hat Prospero seine Rechnung ohne die Schauspieler gemacht, denn auch die pfuschen gewaltig im Drehbuch herum, wollen die ihnen zugedachten Rollen nicht spielen und rebellieren immer wieder gegen die Unterdrückung.

Das Stück ist eine verschachtelte Erzählung auf mehreren Ebenen, mit viel Wortwitz und herrlich unperfekt. Allein die Tatsache, dass die Schauspieltruppe eine Schauspieltruppe spielt, ist an sich schon verwirrend genug und in ihrer Verzwicktheit praktisch Shakespeare-würdig. Denn die verwischenden Grenzen zwischen Spiel und Realität, mit denen die Schauspieler auf Prosperos Insel zu kämpfen haben, werden so auch für den Zuschauer zur Grundsatzfrage: Wo hört die Realität auf, wo fängt das Spiel an? Was ist beabsichtigt, was nicht? Hinzu kommt die Tatsache, dass die Darsteller noch Stücke im Stück, einmal sogar ein Stück im Stück im Stück aufführen. Damit ergeben sich für alle Akteure mehrere Namen, sowie mehrere Charaktere, die sich teilweise gleichen, teilweise widersprechen. In der Theorie ein hochkomplexer Stoff und in der Praxis… schlichtweg unbeschreiblich.

Vor den Augen der in L-Form um die tiefer liegende Bühne herum platzierten Zuschauer spielen sich Dramen und Komödien gleichermaßen ab. Schon zu Beginn der ersten Szene werden die Grenzen des Bühnenbilds voll ausgekostet. Große Metallschüsseln, die mal Hocker, mal Schiff sind, sowie eine schwere, staubige Truhe stellen die einzigen verwendeten Requisiten dar. Die schräg abfallende Bühnenrückwand fungiert derweil als Projektionsfläche für Bilder von Wellen und Regen zur Untermalung der pantomimisch dargestellten Szenerie. Ein Sprachbild, das auch in den folgenden Szenen immer wieder auftaucht, sind die Papierrollen, auf die die verschiedenen Texte geschrieben sind, die aber auch symbolisch für die verschiedenen “Rollen” der Schauspieler stehen.

Jeder einzelne Spieler ist ein Charaktermensch, auf seine ganz eigene Weise unverwechselbar, irgendwo zwischen Realität und Spiel. Bösewicht Prospero, gespielt von Sven Normann, thront imperialistisch in seinem Rollstuhl und überzeugt durch eindrucksvolle Mimik und Donnerstimme, wohingegen sein etwas betagterer und von Glitzerpuder bedeckter Bruder Antonio eher den altklugen, selbstgerechten Chef mimt. Prosperos Tochter, die gehörlose Miranda (gespielt von der ebenfalls gehörlosen Schauspielerin Rosemarie Walter), mischt sich spontan mit unter die Theaterleute, und bringt ihnen gemeinsam mit Inselgeist Ariel (Joannis Bacharis) die Gebärdensprache bei. Daraus entwickelt sich letztendlich ein “Gebärdenchor” – Die Theaterleute, die in Prosperos Stücke nicht direkt eingebunden sind, sammeln sich im vorderen Bühnenbereich und beginnen, den gesprochenen Text in Gebärdensprache zu übersetzen, was sich nach und nach zu einem pantomimischen Tanz auswächst.

Unter Anleitung von Prospero verstricken sich die Schauspieler immer tiefer in einem Netz aus Verrat, Wahnsinn und Eifersucht, dass den Gegensatz von Gut und Böse beinahe aufzuheben scheint. Zu guter Letzt gelingt es ihnen aber doch, sich aus Prosperos Schreckensherrschaft zu befreien und von seiner Insel zu fliehen. Währenddessen blüht junge Liebe zwischen den Darstellern auf und auch der grobe Sklave Caliban entwickelt ein Gewissen und zarte Emotionen.

Wie bereits in der Einführung prophezeit, spielt es letztendlich keine Rolle, ob man die Gebärdensprache versteht oder nicht, ebenso wenig, ob nun der eine oder andere Schauspieler seinen Text vernuschelt: Es ist ein Stück, bei dem es vor allem um das “Feeling” geht, um diese kuriose Mischung aus bizarren Kostümen, stummfilmhafter Musik und sichtbarem Spielspaß, die einen augenblicklich in ihren Bann zieht. Man muss weder Hamlet noch Richard III kennen, um in dieser Handlung aufzugehen, um mitzufiebern und bei jedem Schrei und Paukenschlag von kribbeliger Spannung durchflutet zu werden.

Lost Love Lost ist ein Stück, dass in seiner Vielschichtigkeit und in seiner Durchführung einmalig ist. Etwas, dass man nehmen und genießen muss, wie es gerade kommt, und von dem man sich einfangen und mitreißen lassen muss. Es ist ein Gefühl, dass sich nicht in Worte kleiden lässt.

Lisa Starogardzki, 2. Semester, März 2015

* Tatsächlich ist “Behinderung” ein korrekter Ausdruck. Genau genommen der einzig existierende für diesen Umstand. Ich finde es traurig, dass dieses Wort, was so exzessiv als Beleidigung genutzt und verstanden wird, tatsächlich mangels Alternative noch immer als sachliche Bezeichnung dienen muss. Natürlich kann das Wort an sich nichts dafür, sondern wir alle, die wir es als Beleidigung ansehen und verwenden, ungeachtet seiner ursprünglichen Bedeutung. Doch selbst wenn wir damit aufhören, ein so negativ konnotiertes Wort lässt sich im Nachhinein nicht mehr neutralisieren. Schließlich waren auch “Idiot” und “Krüppel” mal neutrale(re) Bezeichnungen. “Behindert” ist es bereits genauso wie ihnen ergangen, und es hat sich unwiderbringlich in den Weiten des Beleidigungsvokabulars verloren. Wir brauchen ein neues Wort! Idee?